Hintergrund
Der von Wladimir Putin entfesselte Krieg Russlands gegen die Ukraine ist vor allem für die Zivilbevölkerung des angegriffenen Landes eine Katastrophe. Mit tiefer Anteilnahme sind unsere Gedanken bei den Menschen in der Ukraine.
Der Krieg markiert außen- und sicherheitspolitisch eine Zäsur und dürfte auch tiefgreifende Auswirkungen auf die deutsche Energie- und Wirtschaftspolitik entfalten. Aus Sicht des VIK und seiner Mitglieder kann die in den vergangenen Jahren immer weiter gewachsene Abhängigkeit von Energie- und Rohstoffimporten aus Russland, insbesondere Erdgas, so nicht fortgesetzt werden. Das hat Konsequenzen für die deutsche Energiewende.
Forderungen des VIK:
1. Die Sicherheit der Versorgung mit Brennstoffen und Strom ist vorrangig. Daher muss vorbehaltlos alles geprüft werden, was dazu beitragen kann. Das gilt neben einem beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien ausdrücklich auch für die Ausstiegsszenarien aus der konventionellen Energieerzeugung. Eine Prüfung regulatorischer Hemmnisse ist durchzuführen, diese sind eventuell temporär und konditioniert zu modifizieren.
2. Die erneuerbare Erzeugung soll die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern reduzieren. Zusätzliche Kapazitäten in nennenswerter Größe werden aber erst mittel- bis langfristig zur Verfügung stehen. Die kurzfristig wirksamen Maßnahmen zur Versorgungssicherheit sind so zu gestalten, dass die darüber hinausreichenden Zielsetzungen des Klimaschutzes und der industriellen Transformation zur Klimaneutralität ihre Gültigkeit behalten.
3. Die Identifizierung und Mobilisierung zusätzlicher Kapazitäten vor allem der Erdgasversorgung ist von großer Bedeutung; gleiches gilt für Möglichkeiten, Erdgas durch andere Energieträger mindestens vorübergehend zu ersetzen.
4. Die Energiepreise befinden sich auf einem Rekordniveau. Sie waren hoch und sind mit Ausbruch des Krieges weiter gestiegen. Eine Entlastung auch industrieller Verbraucher von staatlich induzierten Preisbestandteilen (Steuern, Abgaben, Umlagen, Zertifikate) ist unerlässlich.
5. Deutschland verfügt über eine Notfallplanung für die Erdgasversorgung, die jedoch mit Bezug auf die Industrie weiterentwickelt werden sollte. Der Notfallplan Gas ist daher unter Einbeziehung der Industrie unverzüglich in dieser Hinsicht zu überarbeiten.
Zu den Forderungen:
Versorgungssicherheit mit Brennstoffen und Strom ist vorrangig. Angesichts der geopolitischen Lage muss ausnahmslos alles auf den Prüfstand, um eine unterbrechungsfreie Energieversorgung in Deutschland auch bei weiterer Verschärfung der internationalen Spannungen zu gewährleisten. Langfristig behalten die Zielsetzungen zum Klimaschutz und der industriellen Transformation ihre Gültigkeit. Der forcierte Ausbau der erneuerbaren Erzeugung in Deutschland ist angekündigt, bekräftigt und folgerichtig, wird allerdings in nennenswerter Größenordnung erst mittel- bis langfristig die erwünschten Wirkungen erzielen. Kurzfristig muss der Gewährleistung der Versorgungssicherheit oberste Priorität eingeräumt und sie durch geeignete Maßnahmen abgesichert werden. Sofern sie für die Versorgungssicherheit nötig sind, müssen Kohlekraftwerke aus den Reserven und Bereitschaften befristet für die Dauer der Krise aktiviert werden. Weitere Stilllegungen konventioneller Kapazitäten sind zu überprüfen, ggf. Wiederinbetriebnahmen ins Auge zu fassen. Politisch sind hierfür die notwendigen regulatorischen Vorgaben zu modifizieren bzw. vorübergehend anzupassen.
Die Ankündigungen der Bundesregierung zur Versorgungssicherheit werden ausdrücklich begrüßt, insbesondere zu nationalen Reserven für Erdgas und Kohle bzw. der Sicherstellung von Mindestvorräten. Sie müssen spätestens zum Winter 2022/23 vorhanden sein. Außerdem unterstützen wir die Überlegungen der Bundesregierung zur Diversifizierung der deutschen Brennstoff- und Energieimporte, das schließt deutsche LNG-Kapazitäten ein.
Europäische Kommission und Bundesregierung sollten, auch zur Beruhigung der Märkte, ergänzend eine Garantie aussprechen, dass die Versorgung mit Erdgas kurzfristig auch dann gesichert ist, wenn es zu Einschränkungen oder Unterbrechungen der Lieferung von Erdgas aus Russland kommen sollte.
Die Versorgung mit Erdgas ist aufgrund der Abhängigkeit von Pipelines, LNG-Terminals und beschränkten LNG-Tankerkapazitäten besonders kritisch. Angesichts der Füllstände in den deutschen Erdgasspeichern sind möglichst kurzfristig zusätzliche Kapazitäten der Gasversorgung zu mobilisieren. Ferner sollten Erdgasverbraucher frühzeitig die Möglichkeit erhalten, Angebote abzugeben, um ihren Verbrauch auf freiwilliger Basis zu reduzieren, wenn das notwendig werden sollte.
Die Preise an den Märkten für Energieträger und Strom waren bereits zu hoch und steigen aufgrund des Kriegs rasant weiter. Politisch müssen daher mit Blick auf staatlich induzierte Preisbestandteile und Kosten kurzfristig Maßnahmen ergriffen werden, um private wie auch industrielle Verbraucher spürbar zu entlasten und die Märkte zu beruhigen. Wir schlagen zur Entlastung die Senkung der Stromsteuer auf den europäischen Mindestsatz vor (zum 01.01.2022). Außerdem ist die Befreiung industrieller Stromverbraucher von weiteren Umlagen (KWK/Offshore) nötig, die Verlängerung der Verordnung Abschaltbare Lasten über den 30.06.2022 hinaus und Erhöhung des Ausschreibevolumens, die gesetzliche Garantie der Strompreiskompensation bis 2030 und das Aussetzen des BEHG für die Dauer der Krise. Eine vorübergehende, konditionierte zeitliche Streckung des Ausstiegs aus der konventionellen Stromerzeugung könnte auch dämpfend auf die Preise wirken: Zum einen bleiben Stromerzeugungskapazitäten im Markt, deren Wegfall das Angebot weiter verknappen und daher preistreibend wirken würde. Zudem wird einer verstärkten Nachfrage nach Erdgas entgegengewirkt.
Auf europäischer Ebene plädieren wir zudem für ein Aussetzen des Mechanismus‘ der Marktstabilitätsreserve (MSR) und die Entnahme von 400 Mio. t aus der MSR und Auktionierung bis Ende 2022. Ein Höchst- bzw. Mindestpreis für CO2-Zertifikate (Preiskorridor) wirkt darüber hinaus sofort disruptiven Preisentwicklungen entgegen und sichert zudem die Wettbewerbsfähigkeit und den Trend zu klimafreundlichen Technologien ab. Außerdem schlagen wir die Rücknahme der Einschränkungen aus den neuen Beihilfeleitlinien (KUEBLL) und die Ausweitung des Begünstigtenkreises und -umfangs vor, den Verzicht auf Verschärfungen im Rahmen weiterer ETS-Reformen, die großzügige, flexiblere Ausgestaltung der Kriterien zur Erzeugung „grünen“ Wasserstoffs, eine testweise CBAM-Einführung nur auf freiwilliger Basis sowie die Prüfung der Einführung eines europäischen Industriestrompreises zur Transformation und Gewährleistung internationaler Wettbewerbsfähigkeit.
Die vorrangige Versorgung mit Erdgas auch und vor allem zur Sicherstellung einer lokalen Fernwärmeversorgung der kritischen Infrastruktur (z. B. Krankenhäuser) und der Bevölkerung ist richtigerweise bereits geregelt. Die Bundesregierung sollte darüber hinaus unverzüglich gemeinsam mit der Industrie eruieren, wo Erdgas eingespart und ersetzt werden kann – und wo nicht.
Auch die Industrie benötigt eine Notversorgung mit Erdgas, sonst drohen massive und teils irreparable Schäden mit schwerwiegenden Folgen für Produktion und Wertschöpfung am Standort Deutschland. Engpasssituationen in der Industrie sollten deswegen vermieden, dafür die Alternativenplanung beschleunigt werden.
Der deutsche Notfallplan Gas muss in diesem Sinne schnell weiterentwickelt werden unter Einbindung der Industrie. Denkbar wäre beispielsweise eine Task Force, die einen Masterplan für einen kurzfristig eintretenden Ausfall der russischen Erdgaslieferungen entwirft. Ferner könnte diese oder eine weitere Task Force Möglichkeiten der Mobilisierung und Sicherung zusätzlicher Erdgaskapazitäten identifizieren, die binnen sechs bis neun Monaten zur Verfügung stehen könnten.